Kochen und Wissenschaft – zwei Welten, die erst in den letzten Jahren zusammenfinden. Prof. Dr. Vilgis ist einer der wenigen Wissenschaftler in Deutschland, der sich mit der Verbindung dieser beiden Welten auseinandersetzt.
Am Max-Planck-Institut leitet er die Gruppe „Soft Matter Food Physics“, die sich mit den physikalischen Vorgängen beim Kochen auseinandersetzt. Außerdem ist er Herausgeber der Zeitschrift „Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens„.
Und als wäre das noch nicht genug, ist er auch Autor diverser Bücher, die sich mit Kochen & der Wissenschaft dahinter auseinandersetzen (eine Auswahl seiner Werke haben wir unten gelistet).
Wir sind sehr froh, dass Herr Prof. Dr. Vilgis sich bereit erklärt hat, unsere Fragen zu beantworten:
kitcheneers: Wie kamen Sie darauf, Wissenschaft und Kochen miteinander zu verbinden? Gab es da einen entscheidenden Moment?
Prof. Dr. Vilgis: Nein, einen Auslöser gab es nicht. Gekocht habe ich schon immer leidenschaftlich gern, Naturwissenschaften, besonders Physik und Chemie sind meine Passion. Lebensmittel sind die faszinierendsten Beispiele für kondensierte, und genussreiche (!) Materie, die man sich vorstellen kann.
Können Sie uns die drei spannendsten Erkenntnisse aus Ihrer Forschungsarbeit nennen?
Das sind definitiv mehr Verständnis vom Fleisch und proteinreichen Lebensmitteln, sprich die kontrollierte Denaturierung von Proteinen und die damit verbundene Wasserbindung, das physikalische und funktionelle Verständnis der Fettspeicherpartikel (Nanopartikel, Mikropartikel) von Ölsaaten (erzielt u.a. über Neutronenstreuung), ihre Rolle beim Keimwachstum und neue Erkenntnisse über das physikalische Verhalten und die Kristallisation von Fetten und Fettmischungen über Röntgenstreuung.
In den USA gibt es mit Harold McGee, J. Kenji Lopez-Alt oder Nathan Myhrvold eine Bewegung, die sich mit den wissenschaftlichen Vorgängen beim Kochen beschäftigt. Sehen Sie eine ähnliche Bewegung in Deutschland?
Nur vereinzelt, von so manchen Wissenschaftlern wird „Kochwissenschaft“ eher belächelt. Auch in der breiten Bevölkerung ist Skepsis verbreitet: Solange in Deutschland hardcore Wissenschaften wie Chemie und Physik als „menschenfeindlich“ betrachtet werden, bleibt es schwierig. Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittskepsis sind leider stark ausgeprägt.
Chemie wird selten als Segen oder fruchtbringende Wissenschaft vor allem in Verbindung mit Lebensmitteln empfunden, sondern eher als „schädlich“. Daher treffen postfaktische Ansichten meist auf fruchtbaren Boden. Aber mit der Generation junger und neugieriger Köche wird dies erfreulicherweise zunehmend besser.
Welchen Kochmythos würden Sie gerne aus allen Kochbüchern verbannen?
Alle „Fleischporen“. Und seit jüngster Zeit die „modernen“ Ernährungsmärchen zu Heilen mit Lebensmitteln, Vegan, Superfood, Paleo. Genussfeindliche, volksverdummende, religiöse Pseudowissenschaften der üblen Art.
Welches Küchenutensil, das nicht in jeder deutschen Küche steht, sollte dort Einzug halten?
Ein Satz exzellenter Messer.
Glauben Sie, dass die Wissenschaft auch die Kreativität aus dem Kochen nehmen kann? Oder ermöglicht die Wissenschaft erst in ganz neue kreative Welten vorzudringen?
Gar nicht, das Gegenteil ist der Fall, wenn verstanden ist, was genau vor sich geht, lässt sich besser, gezielter, kreativer und innovativer kochen. Wissen ist Macht. Erst recht am Herd und in der Küche. Man fischt nicht im Trüben und löst sich von der Empirie.
Gibt es einen Koch, den Sie aufgrund seiner Kochtechnik derzeit besonders spannend finden?
Zu viele, um jemand herauszustellen. Entscheidend ist für mich der frühe Mut zur eigenen Handschrift, anstatt „alte“ Meister zu kopieren. Echte Freigeister, unvoreingenommen, mit Ecken und Kanten schätze ich am meisten.
Gibt es eine Frage, die Sie gerne mal beantworten würden, Ihnen aber noch nie gestellt wurde?
Die Frage: „Was halten Sie als Naturwissenschaftler von „Gesunder Ernährung“?“
Die Antwort: „Der Begriff lässt sich weder definieren noch wissenschaftlich untermauern, also nichts: ab damit in den Ideologiekorb.“
Haben Sie noch einen Kochtipp oder -trick für uns, den unsere Leser direkt heute Abend anwenden können?
Gewaschene (Wurzel)Gemüseabschnitte /Schalen einsammeln, im Ofen, besser Dehydrator, zwischen 50 °C – 60 °C trocknen, im Mörser oder Mixer pulverisieren und als „Gemüsestreugewürz“ verwenden.
Sie kommen ja aus Schwaben. Hand aufs Herz: Lieber ein Menü bei einem Sternekoch oder doch Mauldäschle?
Beides ist doch wunderbar. Die klassischen Mauldäschle (Herrgottsbscheißerle) in einer richtig guten Brühe sind immer noch genial, da prägend. Genauso wie deren dekonstruierten Versionen, die mir gerade spontan einfallen. Maultaschen sind doch für jeden (schwäbischen, badischen) Sternekoch ein tolles Betätigungsfeld für extrem spannende amuse gueules, Vorspeisen, Zwischengänge…
Gehört schlicht zur Bewahrung der regionalen Kochkultur, durchaus mit neuen Kochtechniken. In vielen Teilen Italiens sind Ravioläla (wie der Schwabe zu den kleinen Mauldäschle sagt), selbst bei besternten und hochdekorierten Köchen wie Massimo Bottura [Besitzer der Osteria Francescana, bestes Restaurant der Welt 2016, Anm. der Redaktion], in vielen Variationen tief verwurzelt.
Prof. Dr. Vilgis, vielen Dank für das Interview.
Auswahl der Werke von und mit Prof. Dr. Vilgis
- Die Molekül-Küche, Physik und Chemie des feinen Geschmacks. Hirzel Verlag, Stuttgart 2005
- Molekularküche – das Kochbuch. Tre Torri Verlag, Wiesbaden 2007
- Das Molekül-Menü – molekulares Wissen für kreative Köche. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2010
- Sous-vide. Der leichte Einstieg in die sanfte Gartechnik. Fackelträger, Köln 2012
- Die hohe Schule des Grillens – Das Beste für Rost und Spieß. Christian Verlag, 2014
- Roh! Die neue Definition von Rohkost. Fackelträger Verlag, Köln 201
- Kochen für Angeber. Stiftung Warentest, Berlin 2014
- Burger Unser. Callway, München 2016
Weiterführende Links
www.journal-culinaire.de – Magazin, das Wissenschaft und Kochen untersucht, herausgegeben von Prof. Dr. Vilgis